Die Reporterin Esther Goldberg war einen Tag zu Gast in der Neudietendorfer Seniorenwohngemeinschaft, welche von der HK Pflegedienst gemeinnützige GmbH betreut wird. Ihre Eindrücke konnten die Leser*innen am 27.04.2018 auf Seite 3 der Thüringischen Landeszeitung erfahren:
Eine Senioren-WG in Neudietendorf bietet die Chance, im Alter selbstbestimmt und dennoch nicht allein zu wohnen.
Neudietendorf. Wo ist da der Haken? In Zeiten, da laut über das bedrohliche Leben im Alter nachgedacht wird und über mögliche Altersarmut, wohnen in zwei Senioren-WG in Neudietendorf Menschen zusammen, die allein einsam wären und vielleicht auch gar nicht mehr zurecht kämen. Ihre Renten aber sind nicht allzu groß. Wie geht das?
Laut klingt „Sun of Jamaica“ von der Gombay-Dance-Band im Korridor des schönen alten Hauses in der Zinzendorfstraße. Irgendetwas ist an dem Lied anders: Richtig, da singt jemand mit kräftiger Bass-Stimme mit. Es ist Gerhard Sputh, 64. Er lädt in sein Zimmer ein. Darin hängt ein Schal vom BVB, und steht eine Lampe mit dem Vereinslogo. Gerhard Sputh hat sich das Zimmer eingerichtet wie ein Student. Doch er gehört zur Senioren-WG in der Zinzendorfstraße.
Die Atmosphäre in einer WG scheint immer die gleiche zu sein. Man wohnt in einer Wohnung, benutzt Küche und Bad gemeinsam und ist eine Art Zweckgemeinschaft. Redet. Und zieht sich zurück. Das ist mein Reich. Zutritt verboten. Oder klopft wenigstens.
Hier, in der Senioren-WG, die vom HK-Pflegedienst betreut wird, läuft dennoch alles ein bisschen anders. Weil sieben Menschen zusammen wohnen, die zwischen 57 und 84 Jahre alt sind. Die haben schon ein sehr eigenes Leben gelebt. Hatten Berufe und haben Familien. Und saßen nun, im höheren Lebensalter, irgendwie einsam in ihren Wohnungen und fürchteten sich davor, irgendwann allein nicht mehr zurecht zu kommen.
Zum Beispiel Erika Amarell. Sie kommt aus Ingersleben, das ist keine zwei Kilometer von Neudietendorf entfernt. Vor ziemlich genau zwei Jahren stürzt sie wieder einmal. Diesmal zu Hause. Erneut fällt sie auf die Knie – wie schon so oft. Und fasst einen sehr einsamen Entschluss: Sie entscheidet, sich in der Senioren-WG anzumelden. Als sie den Anruf bekommt, dass nun ein Zimmer frei sei, zieht sie drei Tage später um. Ihren Kindern sagt sie erst am letzten Abend im alten Zuhause Bescheid. Es ist schließlich ihre Entscheidung. Und nur, weil ihr Körper ihr immer mal wieder Streiche spielt, muss sie doch nicht ihren Blick auf das Leben und die Welt verändern. Im Kopf ist sie ja klar. Und der sagt ihr, zieh jetzt um. Es ist dein Leben.
Gemeinsam mit den anderen kommt sie jetzt zum Frühstückstisch. Die Art, wie die fünf Frauen und zwei Männer hier zusammen sitzen, erinnert wieder an eine WG. Da stehen Brot und Brötchen und Wurst und Käse. Man bedient sich ganz selbstverständlich. Und mittendrin sitzt Kerstin Eck. Sie ist eine der Betreuerinnen, ist an diesem Tag bis zum Abend da und sitzt neben Ilona Weber. Die ist halbseitig gelähmt und kann ihr Brötchen nicht aufschneiden. Aber sie kann es belegen, und das tut sie auch. „Wir wollen, dass alle in der WG noch das tun können, wozu sie in der Lage sind“, sagt Kerstin Eck. Nimmt sich ebenfalls ein Brötchen und isst. Gemeinsam mit den anderen. Den Tisch hat Werner Schmalsteg gedeckt. Er ist 78 und morgens als erster fit. Warum soll er da nicht den Tisch decken. Die anderen räumen ab. Erika Amarell bestückt den Geschirrspüler.
Werner Schmalsteg hat es jetzt, nach dem Frühstück, eilig. Er hat ein Stück Krone verloren und muss zum Zahnarzt. Er verabschiedet sich. Hoffentlich muss er nicht so lange warten. Er wird wenige Minuten später wiederkommen. Der Zahnarzt hat Urlaub. Noch eine Woche. Mal sehen, ob er so lange ohne die Krone herum läuft.
Der WG-Gedanke bleibt
„Das hier ist gut“, sagen sie. Es klingt alles einfach viel zu harmonisch, als dass das Misstrauen sofort verschwinden kann. Sie waren in so unterschiedlichen Berufen unterwegs. Waren Sekretärin und Diätköchin, Maurer, Maler und Montiererin. Wie geht das jetzt, da man längst weiß, was man alles nicht mehr im eigenen Leben haben will, zusammen? Die sieben wirken nicht wie eine Notgemeinschaft. Der WG-Gedanke bleibt. „Es geht tatsächlich“, sagt denn auch Kerstin Eck. Sie duzt die Bewohner. „Weil sie das so festgelegt haben“, erklärt sie. Sie seien eine Art Familie. Widerspruch gibt es nicht. Natürlich leben sie auch mal mit Spannungen. Das ist in einer Studenten-WG oder in der Familie nicht anders. Aber die hier haben etwas verstanden, was vielleicht erst durch Schmerz wachsen konnte: Ohne diese WG würden sie alle irgendwann im Pflegeheim leben müssen. Denn einen Pflegegrad haben sie inzwischen zuerkannt bekommen. „Hier aber sind wir nicht allein und können es trotzdem sein, wenn wir das wollen“, sagt Gerhard Sputh.
Sein „Sun of Jamaica“ interessiert die anderen nicht. Aber er hat ja sein eigenes Zimmer. „Wenn ich meine Ruhe will, bin ich hier“, sagt er. Ist selbst in diesen Stunden nicht allein in der Wohnung und doch für sich. An seiner Tür wie an jeder anderen steht groß die Telefonnummer des ambulanten HK-Pflegedienstes. Denn in der Nacht bleiben sie unter sich. Die Betreuerinnen kommen tagsüber. Auch das ist kein Haken. Weil sie ja auch zu Hause allein wären. Und es ist kein Pflegeheim.
Für Werner Schmalsteg kam eine andere Idee fürs Alter nicht in Frage. Es ist jetzt einige Jahre her, dass er nicht mehr dort wohnen konnte, wo er bislang gelebt hat. Das Haus sollte verkauft werden. Er, der nie eine eigene Familie gegründet hat, ist sehr allein. Da kam ihm das Seniorenwohnen ausgesprochen recht. Sie sind zusammen, manche kannte er von früher. „Egal, wer Hilfe braucht, Werner tut einfach“, sagen die anderen. Und das tut dem, der sonst richtig einsam wäre, gut. Ist der Haken vielleicht, dass gehen muss, wer allzu viel Pflege braucht? „Nein“, sagt Kerstin Eck. Es dürfen alle bleiben, wenn sie keine 24-Stunden-Pflege benötigen.
Die Suche nach einem Haar in der Senioren-WG-Suppe
Sie helfen hier einander. Ganz selbstverständlich. Es wirkt, als lebten sie auf einer Insel. Trotz ihrer nicht sonderlich üppigen Rente. Ist also der Haken das Geld? Wird auf diese Weise diese Wohnform reguliert und ist nur wenigen vorbehalten? Nein. Sie zahlen pro Tag nur wenige Euro für Essen, Trinken und auch noch für Zahnpasta und andere Hygieneartikel. „Die Menge macht’s, dass wir damit zurecht kommen“, sagt Kerstin Eck. Hinzu kommen noch Wohnkosten bis zu 500 Euro. Außerdem werden noch insgesamt 500 Euro Betreuungskosten berechnet. 200 davon zahlt die Pflegekasse. Kostenlos sind die Telefone in den Zimmern und auch das Fernsehen.
Das Haar in der Senioren-WG-Suppe, das ich suche, finde ich auch nach Stunden nicht. Ich setze mich in den Lift im Treppenhaus und fahre die Treppe entlang. Das ist nicht lustig. Das könnte die Zukunft sein. Gelebtes Leben und die Treppen hinauf und hinab springen und dann darauf angewiesen sein. Das kann alle treffen. Wie gut, wenn es dann eine Wohnform gibt, in der man nicht einsam sein muss. Es reicht schließlich, dass das Alter drückt und vielleicht die Schmerzen kommen und die Gebrechen. Die WG könnte davon einiges abfangen…
Zahlen & Fakten
* Thüringenweit gibt es inzwischen Senioren-Wohngemeinschaften.
* Teils werden sie von großen Trägern wie der Awo oder auch von Wohnungsgesellschaften geführt und teils von Privatdiensten.
* Das Prinzip einer Senioren-WG ist immer gleich: Die Menschen haben eigene Zimmer mit eigenen Möbeln und entscheiden selbst. Zusätzlich gibt es Gemeinschaftsräume und auch mehrere Bäder.
* Betreuerinnen sorgen dafür, dass der Alltag in der WG richtig läuft. Dazu zählt unter anderem, dass die Medikamente richtig genommen und auch die medizinischen Anwendungen ermöglicht werden.
* Es gibt in einigen Einrichtungen einen Hausnotruf, mit dem auch nachts Hilfe geholt werden könnte.
* Unter anderem gibt es Senioren-WG in Neudietendorf, Erfurt, Weimar und Gera.
Betreuerin Kerstin Eck: „Wir verhindern Einsamkeit“
In der Senioren-WG in Neudietendorf ist Kerstin Eck für die Koordination der Betreuerinnen zuständig. Wir haben mit der Teamleiterin über das Leben in der Gemeinschaft gesprochen.
Wer kommt zu Ihnen in die Senioren-Wohngemeinschaft?
Es sind häufig die Kinder, die für ihre Eltern bei uns vorbei schauen und möchten, dass die Eltern nicht allzu weit fort von ihrem bisherigen Umfeld leben können. Aber es melden sich auch ältere Menschen, die wissen, dass sie allein nicht mehr zurecht kommen. Wir bekommen Anfragen aus verschiedenen Orten Thüringens.
Wie alt sind die Bewohner?
Bei uns in den beiden Senioren-WG sind sie zwischen 54 und 94 Jahre. Das Wohnen hat wirklich etwas von einer Studenten-WG. Allerdings haben die Bewohner hier schon ein Leben hinter sich. In einer WG leben Menschen, die wenig Geld haben und sich zusammen schließen. Und Studenten und Rentner haben wenig Geld.
Was kostet denn das Wohnen bei Ihnen?
Für die Betreuung, Essen, Trinken und Wohnen sind das rund 1000 Euro. Das Wohnen wird nach Quadratmetern bezahlt. Und natürlich gibt es auch Wohngeld, wenn das nötig ist.
Was ist, wenn die Menschen in Ihrer WG gebrechlich werden, müssen sie ausziehen?
Nein, sie können bleiben und müssen dann halt einen Pflegedienst in Anspruch nehmen.
Was machen die Betreuerinnen?
Wir sind einfach da. Bereiten das Essen gemeinsam mit allen vor, die dazu noch in der Lage sind. Kümmern uns um Arzttermine. Bieten Freizeitbeschäftigung. Und es gibt die zahllosen Handreichungen, die sich nicht aufzählen lassen. Unser Ziel ist es, dass die Menschen nicht einsam leben und noch kränker werden. Bei uns in der Senioren-WG blühen sie wirklich wieder auf.
Gibt es noch Plätze in der WG?
Aktuell nicht. Deshalb haben wir Wartelisten und werden noch in diesem Jahr in ein anderes Haus umziehen. Dann wird es eine weitere WG geben.


